Dr. Gerhard Timm, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e.V. (BAGFW), erklärt, wie die Digitalisierung Soziale Arbeit verändert, warum der Diskurs zwischen Politik und Zivilgesellschaft gestärkt werden muss und was notwendig ist, um gute KI-Anwendungen diskriminierungsfrei zu gestalten.
„Eine gute KI darf nicht zu Ausgrenzungen führen“
Interview mit Dr. Gerhard Timm anhören:
Denkfabrik: Herr Dr. Timm, in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege sind die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege vereint. Gemeinsam erarbeiten sie Initiativen und Aktivitäten, um soziale Arbeit zu sichern und weiterzuentwickeln. Was bedeutet das konkret?
Dr. Timm: Wir kümmern uns um die Weiterentwicklung und um das gute Funktionieren unseres Sozialstaates. Das bedeutet, dass wir Positionen und Stellungnahmen zu allen Bereichen der Sozialen Arbeit erarbeiten – diese Ergebnisse machen wir den Entscheidungsträger*innen im Bund zugänglich. Ein konkretes Beispiel für unsere Arbeit ist ein Projekt zur Digitalisierung der Freien Wohlfahrtspflege. Wir erproben hier digitale Ansätze, um die Arbeitsstrukturen und Prozesse in der Freien Wohlfahrtspflege an die aktuellen Möglichkeiten der Technik anzupassen und auch Angebote zu entwickeln. So wollen wir einerseits neue Zielgruppen und andererseits alte Zielgruppen auf neue Weise erreichen. Ein besonders interessantes Format ist außerdem das Sozial-Monitoring, das zweimal im Jahr gemeinsam mit der Bundesregierung stattfindet. Wir sprechen dort über ungewollte Nebenfolgen der Sozialgesetzgebung. So werden Gesetze oder Verordnungen im Zweifelsfall verbessert. Momentan bereiten wir uns auf die Verhandlungen zu einem Koalitionsvertrag vor, um dort unsere Vorstellungen für ein soziales Deutschland einzubringen, und was aus unserer Sicht in den kommenden vier Jahren dafür notwendig ist.
Denkfabrik: Gibt es ein soziales Thema, das Sie im Moment als besonders dringlich einschätzen?
Dr. Timm: Vor dem Hintergrund der Ereignisse in Afghanistan ist natürlich das Thema Flucht und Migration weit oben auf der Tagesordnung. Ein wichtiges Thema bleibt außerdem die Pflege, insbesondere wegen des fortschreitenden demographischen Wandels. Als weiteres soziales Thema schiebt sich die Frage nach bezahlbarem Wohnraum in den Vordergrund.
Denkfabrik: Wie verändert die Digitalisierung die Soziale Arbeit? Kann sie diese dringenden Themen verbessern?
Dr. Timm: Die Digitalisierung schafft Möglichkeiten, bestehende Angebote nutzer*innenfreundlicher zu gestalten. Bleiben wir beim Beispiel Pflege: Hier treibt die Bundesregierung gemeinsam mit der gematik GmbH zurzeit ein Projekt zur Einbindung der Pflege in die Telematikinfrastruktur voran. Telematik meint die Vernetzung verschiedener IT-Systeme und die Möglichkeit, Informationen aus unterschiedlichen Quellen sicher miteinander zu verknüpfen. Die Telematikinfrastruktur verbindet also alle Akteur*innen des Gesundheitswesens und ermöglicht so eine effektive und sichere Kommunikation zwischen Pflegediensten, Ärzt*innen und Krankenhäusern. Das würde den Status Quo verbessern.
Die Vorteile der Digitalisierung haben wir insbesondere in der Pandemie gemerkt, als persönliche Beratungstermine durch digitale Angebote erweitert oder ersetzt wurden. So konnten wir unsere Zielgruppen weiterhin erreichen. Das ist eine große Chance, die wir gut genutzt haben. Teilweise können wir Menschen online sogar besser erreichen als auf traditionellem Weg in Beratungsstellen – auch unabhängig von der Pandemie. Ein Beispiel ist die Online-Beratung für suizidgefährdete Jugendliche. Aber natürlich muss man bei der Digitalisierung auch die Herausforderungen sehen. Wir müssen den Wandel so gestalten, dass Digitalisierungsprozesse bestehende Ungleichheiten nicht weiter verschärfen. Gesellschaftliche Gruppen, die aus Ressourcen- oder Kompetenzgründen keinen Zugang zu digitalen Angeboten haben, dürfen nicht noch stärker ausgegrenzt werden, als sie es schon sind.
Wenn Sie selbst das Gefühl haben, Hilfe zu benötigen, kontaktieren Sie bitte die Telefonseelsorge. Unter der kostenlosen Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 erreichen Sie Berater*innen, die Ihnen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen können. Die Online-Beratung für Jugendliche der Caritas erreichen Sie unter: www.u25-deutschland.de
Denkfabrik: Wie bewerten Sie das Potenzial von Künstlicher Intelligenz (KI), um Sozialarbeit zu stärken und wo sehen Sie Herausforderungen?
Dr. Timm: Zum einen sollte man dazu zunächst einmal klären, was wir unter KI genau verstehen. Das ist sowohl in der Wissenschaft, aber auch in der politischen Diskussion durchaus umstritten. Bedeutet KI-Digitalisierung plus Maschinelles Lernen plus Algorithmen plus X – was da auch immer noch kommen mag? Zum anderen ist entscheidend, ob wir nur die nächsten zwei, drei Jahre in den Blick nehmen oder ins Jahr 2050 blicken.
Denkfabrik: Beides würde interessieren – sowohl ein Ausblick auf die kommenden Jahre, als auch eine Projektion in das Jahr 2050.
Dr. Timm: Was die nächsten Jahre betrifft, bin ich optimistisch – für Menschen mit Beeinträchtigungen sehe ich besonders viele Chancen. Ich glaube, dass KI viele Routinen im Interesse der Beschäftigten oder der Pflegenden und der Gepflegten verbessern kann. Was die weitere Perspektive betrifft, müssen wir vorsichtig sein. Denn ich halte das Potenzial von KI wirklich für gigantisch. Wir werden es mit technologischen und sozialen Innovationen revolutionären Ausmaßes zu tun bekommen. Insbesondere die Verbindung von Informationstechnologie und Biotechnologie wird unser aller Leben massiv beeinflussen. Das wird auch die Soziale Arbeit verändern. Obwohl ich glaube, dass Kreativität und konkrete Zuwendung, beides prägende Eigenschaften der Sozialen Arbeit, schwerer oder vielleicht auch gar nicht ersetzbar sind. Allerdings sehen wir bereits jetzt, dass KI-gestützte Psychotherapien durchaus erfolgreich sein können – sogar erfolgreicher als traditionelle Therapien mit menschlichen Therapeut*innen. Der Wissenschaftsautor Yuval Noah Harari, den ich sehr schätze, spricht in seinem Buch „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ von der Entstehung einer großen Klasse von „Nutzlosen“, die einfach nicht mehr gebraucht wird, weil ihre Aufgaben durch KI ersetzt werden. So eine Entwicklung ist offensichtlich sehr bedrohlich. Denn, dass ein Mensch für die Gesellschaft nutzlos wird, ist das Schlimmste was ihm passieren kann. Deswegen glaube ich, brauchen wir eine Ethik bei Algorithmen. Das ist für mich ein wesentlicher Aspekt einer gemeinwohlorientierten KI, wie sie auch die Civic Innovation Platform propagiert.
Denkfabrik: Was erhoffen Sie sich von der Zusammenarbeit mit der Civic Innovation Platform und welche Kompetenzen können Sie selbst in die Plattform einbringen?
Dr. Timm: Die Hoffnung besteht darin, neue Synergien zu schaffen, damit soziale Arbeit stärker von der Digital-Community profitieren kann. Uns muss es noch besser gelingen, unterschiedliche Expertisen und eigene Kompetenzen zusammenzuführen. Was wir als BAGFW dabei einbringen können: Durch unsere praktischen Erfahrungen können wir die konkreten Bedarfe für gesellschaftliche Probleme benennen und damit auch die passenden Fragen für digitale Lösungsansätze formulieren. Das sind unsere Kompetenzen.
Denkfabrik: Was muss eine gute KI-Anwendung für Ihre Zwecke erfüllen? Haben Sie Kriterien in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege dazu entwickelt?
Dr. Timm: Konkrete Kriterien haben wir bisher nicht entwickelt. Eine schöne Richtschnur ist natürlich die Gemeinwohlorientierung. Eine gute KI darf nicht zu Ausgrenzungen führen. Deswegen ist es wichtig, dass Informatiker*innen in multidisziplinären Teams arbeiten und beispielsweise dafür sensibilisiert werden, diskriminierungsfrei zu programmieren. Eine weitere Herausforderung ist der Umgang mit den vielen sensiblen Daten, die eine funktionierende KI überhaupt erst möglich machen. Die Entwicklungen, um diese Daten zusammenzuführen, stehen noch am Anfang.
Denkfabrik: Welche digitalen Kompetenzen werden Menschen in Zukunft in ihrem Alltag brauchen und wie können Menschen mit besonderen Bedürfnissen dabei berücksichtigt werden?
Dr. Timm: Zum einen ist die Kompetenz, digitale Endgeräte bedienen zu können, sehr wichtig. Dabei gibt es viele unterschiedliche Bedarfe verschiedener Zielgruppen zu beachten: Senior*innen, Blinde, Hirngeschädigte, Menschen mit Sprachbarrieren, um einige Beispiele zu nennen. Zum anderen braucht es einen kritischen Umgang mit den eigenen Daten und die Kompetenz, relevante Informationen zu erkennen und sie von Fake-News zu unterscheiden. Das ist eine Bildungsaufgabe. Es kommt darauf an, frühzeitig zu üben. Wir haben daher Schulungsangebote für Mitarbeitende geschaffen, aber auch für Jugendliche zum Beispiel zum Thema soziale Medien.
Denkfabrik: Welche Erwartungen haben Sie an die zweite Runde des Ideenwettbewerbes „Gemeinsam wird es KI“?
Dr. Timm: Die erste Runde des Ideenwettbewerbes war inhaltlich breit gefächert, nun wünsche ich mir eine größere Beteiligung der Freien Wohlfahrtspflege. Dafür möchten wir uns einsetzen, da es unterschiedliche Kompetenzen zusammenbringt und auch unsere Arbeit davon profitiert. Was wir uns außerdem dringend wünschen, ist ein stärkerer Diskurs zwischen Politik und Zivilgesellschaft über anstehende Entwicklungen und die Konsequenzen. Dafür könnte die Civic Innovation Platform als Forum dienen. Wir sollten den gesellschaftlichen Diskurs vorantreiben und dabei die übergeordnete Frage der Gemeinwohlorientierung im Auge behalten.
Denkfabrik: Wenn Sie einen kreativen Blick in die Zukunft werfen. Welche KI-Anwendung würden Sie sich persönlich wünschen?
Dr. Timm: Ich würde gerne unsere Bewerbungsprozesse objektivieren. Das heißt, sie mithilfe von KI sowohl in fachlicher Hinsicht zu verbessern, als auch unter dem Gesichtspunkt von Diskriminierungen aller Art. Angeblich entscheiden wir über Bewerbungen in den ersten drei Sekunden, basierend auf vielen Vorurteilen, die wir in unserem Leben so angehäuft haben. Das würde ich gerne ändern. Für solche Anwendungen gibt es bereits erste, vielversprechende Ansätze. Diese sollten wir weiterverfolgen.
Denkfabrik: Herr Dr. Timm, vielen Dank für das Gespräch.
Hinweis: Das Gespräch wurde Anfang September vor der Bundestagswahl geführt.