„Uns sollte es gar nicht geben müssen!“
Die Wheelmap zeigt barrierefreie Orte und Hürden. Das gemeinnützige Datenprojekt erleichtert Rollstuhlfahrer*innen den Alltag. Der Verein dahinter, die Sozialhelden, versteht sich damit auch als Signalgeber in Richtung Politik.
Wer auf Räder angewiesen ist, sieht die Welt mit anderen Augen. Das gilt auch für Svenja Heinecke – obwohl sie nicht im Rollstuhl sitzt. Doch Heinecke beschäftigt sich seit vielen Jahren mit störenden Stufen, engen Gängen und kaputten Aufzügen, denn die Berlinerin betreut die Wheelmap. Diese Online-Landkarte zeigt inzwischen weltweit, welche Orte barrierefrei sind und wo Rollstuhlfahrer*innen der Weg versperrt bleibt.
Die Wheelmap, gegründet vom Verein Sozialhelden, ist eine gemeinwohlorientierte, digitale Vorzeige-Innovation. Preis-, Förder- und Spendengelder machen sie möglich. Ins Leben gerufen 2010 feierte sie aktuell bereits ihren zehnten Geburtstag. Zielgruppe sind rund 1,6 Millionen Menschen in Deutschland, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind.
Kleine Barrieren stellen den Terminkalender auf den Kopf
Das kostenlose Angebot trägt dazu bei, Menschen mit Mobilitätseinschränkungen den Zugang zum und die Fortbewegung im öffentlichen Raum zu erleichtern, denn die Hürden des Alltags sind allgegenwärtig: Eine Treppe ohne Aufzug – und der Anschlusszug ist abgefahren. Drei Stufen bis ins Restaurant – und das Mittagessen muss woanders stattfinden. Keine Toilette mit ausreichend Platz für den Rollstuhl – und der Besuch in diesem Club fällt aus.
Svenja Heinecke ist Community Managerin und damit zentrale Ansprechperson im Herzen der Wheelmap: Sämtliche Daten, aus denen sich die Karte zusammensetzt, stammen von Nutzer*innen und diese sind es auch, die Fehler melden und korrigieren. „Wir können ja keine Mitarbeiter*innen losschicken bei einer weltweiten Karte, deshalb lösen sich alle Fragen – ähnlich wie bei Wikipedia – über die Nutzer*innen.“ Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Jedes Jahr werden 100.000 neue Orte in die Karte aufgenommen.
Die ursprüngliche Idee hatte Raul Krauthausen, der zusammen mit Jan Mörsch den Verein Sozialheldengegründet hat. Krauthausen war genervt, sich niemals sicher sein zu können: Schaffe ich es mit meinem E-Rollstuhl zum nächsten Termin? Welche Umwege muss ich einplanen? Also konzipierte er gemeinsam mit dem Software-Entwickler Holger Dieterich die Wheelmap.
Alle Daten gehören der Gemeinschaft
Von Anfang an setzte sie auf OpenStreetMap als Basis, denn das Projekt OpenStreetMap besteht aus frei nutzbaren Geodaten. „Wir als gemeinnütziger Verein arbeiten aus Prinzip mit gemeinfreien Daten“, erläutert Svenja Heinecke. Eine solche Lösung sei nachhaltig, weil alle Daten der Community gehören und nicht ein einzelner Software-Konzern plötzlich den Stecker ziehen könne. Ein positiver Nebeneffekt: Die OpenStreetMap-Nutzer*innen füttern die Wheelmap mit Daten zur Barrierefreiheit und Wheelmap-Daten fließen zurück in andere Anwendungen, die auf der OpenStreetMap basieren.
Vernetzung und Verzahnung liegen dem Verein Sozialhelden ohnehin am Herzen. „Alle unsere Projekte wollen Menschen zusammenbringen. Wir wollen immer das meistmögliche an Synergien nutzen“, sagt Heinecke. Schließlich steht nie ökonomischer Profit, sondern immer ein Gewinn für die Gesellschaft im Mittelpunkt.
Das Wissen wächst dank vieler Helfer*innen
Svenja Heinecke und ihre Kolleg*innen denken die Vernetzung noch weiter: Die Sozialhelden verknüpfen inzwischen weit mehr Daten als nur Ortsangaben in ihrer sogenannten Accessibility Cloud. Dort laufen Live-Daten von 3.300 deutschen Aufzügen ein, Bewertungen aus dem Empfehlungsdienst Foursquare und vieler weiterer Quellen.
Der Nutzen von Wheelmap geht weit über ihre ursprüngliche Ausrichtung hinaus: Ihre Macher*innen tragen das Thema Barrierefreiheit auch in die Verwaltungen. So schickte der Landkreis Böblingen von 2014 bis 2017 Schulklassen los, um Orte auf der Wheelmap zu erfassen. Der Kreis Olpe (NRW) suchte ebenfalls Hilfe bei den Sozialhelden, um sein Gebiet zu kartieren. In einer alternden Gesellschaft ist eine Stadt ohne Stufen wichtiger denn je − auch Menschen mit Rollatoren können von der Karte profitieren.
KI könnte bei der Routenplanung helfen
Das Projekt Wheelmap entwickelt sich auch nach zehn Jahren weiter und verfolgt klare Visionen. Rollstuhlfahrer*innen sollen künftig nicht nur Orte anschauen können, sondern ganze barrierefreie Routen planen. Dazu sind jedoch viele weitere Daten notwendig. Denn buchstäblich jede Bordsteinkante zählt.
Svenja Heineckes Gedanke: Künstliche Intelligenz einsetzen. Detaillierte 360-Grad-Ansichten von Straßen liegen oft schon vor. Was fehlt, sind kluge Systeme, die in der Masse von Bildern mittels Objekterkennung Hindernisse ausfindig machen. „KI birgt hier wachsende Potenziale für uns“, sagt Heinecke, räumt aber auch ein: Das kleine Team hat derzeit viel mehr Fragen als Lösungen.
Ist die Wheelmap irgendwann einmal fertig? Das wünscht sich Heinecke und sagt: „Cooler wäre, wenn es uns gar nicht mehr geben müsste.“ Das Ziel müsse eine Welt sein, in der Barrierefreiheit der Standard ist. „Gemeinwohlprojekte wie wir sind Signalgeber für notwendige politische Veränderungen.“